Kurzgeschichten

Das Fenster

Sprühregen ging in Graupelschauer über. Heiner zog die Schultern hoch und blieb eng an den Stamm der alten Kastanie gelehnt. Wasser tropfte von den Zweigen auf seine Kopfhaut, rann den Nacken hinunter. Er liebte den November. So wie er es liebte von draußen durch das erleuchtete Küchenfenster Susanne zu beobachten, wie sie das Abendessen vorbereitete. Im November waren endlich all die störenden Blätter von den Zweigen der Sträucher gefallen, die ihm so viele Monate die Sicht auf seine Frau versperrten. Was machte da das bisschen Wasser und die Kälte?

Susanne hatte ihren ganz eigenen Rhythmus. Er sah wie sie als erstes die Butter aus dem Kühlschrank nahm und liebte sie für diese Umsichtigkeit. Wie scheußlich war harte Butter, die sich nicht streichen ließ. Konzentriert schnitt Susanne das Brot in gleichmäßig breite Scheiben und legte sie schön gefächert in den Korb. Sie ging hinüber zum Esstisch und stellte ihn auf die rechte Seite, neben Heiners Platz. Er hatte das Gefühl, den Duft des frischen Brotes riechen zu können. Vom Esstisch ging Susanne wieder zum Kühlschrank. Käse und Wurst wurden aus ihren Tüten gewickelt und erhielten jeweils eine eigene Platte. Wir wollen doch nichts zusammen bringen, was nicht zusammen gehört, hörte er sie lächelnd sagen. Jetzt öffnete sie ein Glas Gurken und füllte sie in eine kleine Porzellanschüssel. Heiner lief das Wasser im Mund zusammen, er liebte Gurken. Sein Magen knurrte. Es wurde höchste Zeit heim zu gehen. Widerstrebend löste er sich von der Kastanie und ging die Straße hinunter. Wenn er sich beeilte, würde er noch die S-Bahn bekommen. Er sah nicht mehr, wie ein Mann das Esszimmer betrat und seinen Platz einnahm.

Nachttisch

Ich habe keinen Nachttisch. Hätte ich einen, so säße ein kleiner Drache darin. Schwarzschuppig, mit garstig glühenden Äuglein. Die ledrigen Flügel zusammengeklappt würde er nur darauf warten, dass ich meine Neugier nicht zügeln kann und die Schublade öffne. Ein Feuerwölkchen würde mir die Finger verbrennen und während ich sie jammernd in den Mund stecke, würde er kichernd davon fliegen. Geschlossene Fenster sind für Drachen nicht wirklich ein Hindernis. Ganz lässig fliegt er den Kamin hinauf und Asche rieselt auf meinen Teppich. Während ich sie mühsam aufsauge, würde mein kleiner Drache die Vorgärten verwüsten, quengelnde Kinder zu Tode erschrecken und Ruß-Spuren auf der Wäsche von den Hausfrauen hinterlassen, die — ohne sie zu fragen — Wind und Sonne als Helfer einspannen. Schon etwas müde geworden, würde er in Satellitenschüsseln pinkeln, während ich mir den zweiten Kaffee aufsetze.

Einen dampfenden Becher in der Hand verkrieche ich mich gerade in meinen bequemen Ohrenbackensessel, als er auf dem Fensterbrett landet und kleine Rauchwölkchen gegen die Scheibe pustet. Wenn ich ihn jetzt nicht hereinlasse, dann saut er mir sämtliche Fenster wieder ein, die ich nach fünf Jahren endlich geputzt habe. Also mache ich ihm die Terrassentür auf und schreie — denn er hört meistens nicht — so laut ich kann:

„Komm rein. Aber putz Dir gefälligst vorher die Klauen ab!“

Mein Drache lässt sich nicht lange bitten und grinsend macht er es sich in meinem Sessel gemütlich, die spitzen Zähnchen leuchten gelb in seinem rotverschmierten Maul. Artig faltet er die Flügelchen und sabbert ein bisschen auf die Lehne. Es soll mir recht sein, solange er nicht an meinem Kaffeebecher nippt. Denn dann hätte ich ein Problem. Mein Drache hasst nämlich alles Süßliche — davon kriegt er schreckliche Blähungen — und ich hab drei Stück Zucker in den Kaffee getan. Doch Kaffee scheint ihn heute nicht zu interessieren. Seine Augenlider sinken auf Halbmast und es entgleitet ihm ein zufriedener Drachenrülpser, die Funken hätten um ein Haar das Polster noch in Brand gesteckt. Ich frage lieber nicht, was er heute gefrühstückt hat, sondern zünde eine Kerze für Nachbars Katze an. Vorwürfe erspare ich uns beiden, er kann nicht anders, es ist eben sein Instinkt. Unauffällig räume ich die Keksdose vom Tisch, wenn er die entdeckt, das wäre die wahre Katastrophe! Ganz besonders hasst er Zuckerguss. Dann speit er Feuer und ich bin nicht versichert!

Was sagen Sie? Drachen gibt es nicht? Na gut, ich geb's zu. Ich habe keine Lust auf Streit. Und keinen Nachttisch. Dafür ein Schaf neben dem Bett.

Das Kissen

Unschlüssig hielt sie das speckige, kleine Kissen in der Hand. Sie musste es irgendwann waschen. Warum nicht jetzt. Es roch! Widerstrebend legte sie es in den Bauch der Waschmaschine. Schloss die Tür. Sie zögerte, kniete nieder und beobachtete es durch das Bullauge, als hätte sie Angst, es könnte plötzlich um Hilfe schreien. So verlassen in fremder, kalter Umgebung. Schmutzig von unzähligen Umarmungen und Küssen, fleckig geweint. Das Wasser würde langsam steigen, unerbittlich über ihm zusammenschlagen. Es würde hilflos herumwirbeln und hinterher völlig verändert sein. Wie neu, als sei nichts geschehen. Sie würde es verraten, wenn sie es allein ließ! Hastig riss sie die Tür auf, zerrte das Kissen heraus und drückte es an sich. Grub wie so oft ihr Gesicht hinein, schnüffelte wie ein halb verhungertes Tier auf der Suche nach Nahrung. Wie vertrauensvoll hatte das Köpfchen auf diesem zart geblümten Stoff gelegen. Nein, sein Geruch war längst verschwunden, überdeckt von ihrem eigenen. Quälend langsam wühlte sich der Schmerz aus ihrem Bauch hinauf in den Brustkorb, breitete sich dort aus, drängte würgend nach oben. Biss wütend von unten in ihren verkrampften Kehlkopf und bahnte sich einen Weg ins Freie.

Sie wusste nicht wie lange sie geschrien hatte. Irgendwann spürte sie den kalten Boden unter ihren Knien. Mühsam stand sie auf, massierte ihre eingeschlafenen Beine, schleppte sich ins Wohnzimmer. Das Kissen ließ sie nicht los.

Auch nachts nicht, im großen Ehebett, das längst keines mehr war. Der Schlaf wollte nicht kommen, aber das kannte sie schon. Statt dessen kamen die Erinnerungen. Kleine klebrige Hände, die nach ihr griffen. Lachen, verschwitztes Haar. Die Augen hatte es von ihr. Das hatten alle gesagt und es hatte sie so glücklich gemacht. Sie hatte in diese zwei kleinen Spiegel geschaut und sich darin gesehen. Ihre Zukunft. Die würde es nicht geben, auch wenn alle das Gegenteil behaupteten. Sie wollte sie nicht mehr.

Frühlingserwachen

Rotkehlchen zupfen Moos aus gelbem Gras. Im dunklen Wacholder entsteht ein Nest. Weiße Sonne schlängelt gierige Finger durch wässriges Blau. Meine Füße verlassen den Weg, verfangen sich im buckligen Untergrund. Zeit, um inne zu halten. Mein Körper, weich gebettet auf gräsernem Pelz, spürt die von unten aufsteigende Kälte der träumenden Erde. Ich kann mich nicht lösen, möchte mich dem Singen und Murmeln hingeben, meinen Blick im Himmel ertrinken lassen. Fliegen summen mich hartnäckig in den Schlaf.

Wiesenungeheuer sumpfen schleimig über meinen Bauch und hinterlassen feuchte Spuren, silbrig glänzende Spinnweben im Haar. Dahinter türmen sich mächtige Vulkangöttinnen auf, spucken trockenes Feuer über mein Haupt, entzünden und entflammen mich. Gar huldvoll winkt die Gottesanbeterin, ein kalt funkelndes Lied auf den Lippen, während ein rosiger Engel im Vorzimmer der Hölle sich die Flügel versengt. Mit einem Lachen zerspringt der blaugefrorene Tag.

Ein Heulen schreckt mich auf. Dunkelheit erscheint als Spukgestalt, hält mich an den Händen, ringt mich nieder. Im Fallen sehe ich Lichtblitze. Ein Feuerwerk fließt den schwarzen Himmel hinab, begrüßt in graue Fetzen gekleidet die Erde. Ich sinke mit ihnen, rase in rauschendem Fall den dunklen Schlund hinab.

Dämmerung entlässt mich aus drückenden Träumen. Mühsam stehe ich auf, versuche, mich zu orientieren. Meine Kleidung ist klamm geworden und greift klebrig nach meinem zitternden Körper, noch beherrscht der Winter die Nacht. Doch diesen Kampf wird er verlieren.

Fliegen macht frei.

Eine Dose voll Sicherheit?

Selber fliegen, die Luft am Körper spüren.

Fliegen macht frei.

So ganz ohne Blech drum herum.

Und Fenster zum rausschauen.

Langsam steigen, alles hinter sich lassen.

Alles wird klein, verschwindet.

Ich steige immer weiter.

Der Wind im Gesicht wird zarte Luft.

Sie dehnt sich ein bisschen widerspenstig,
als ich die Hülle durchbreche und in den Weltraum drifte.

Langsam geht es.
Ohne Ziel, alles ist schwarz. Hinter mir das Blau.

Leuchtend, vertraut und doch zu schwer.
Eine Richtung lässt sich nicht mehr erkennen.

Gut so.

Nur sein.

Die Luft geht mir aus.

Ist Sterben so?

Ich erstarre zu einem schwebenden Eisklumpen.

Ganz unbemerkt.

Treibe durchs All.

Vielleicht werde ich ein Meteorit von durchschlagender Wirkung. Vielleicht aber auch nur in Sekunden verglühn.

Eine Sternschnuppe.

Welches Kind wünscht sich was?

Willst Du mit mir gehen?

Die Frage kommt eigentlich nicht überraschend. Seit Monaten schon habe ich ihren Blick Richtung Mauer registriert. Ein forschender, sehnsuchtsvoller Blick. An manchen Tagen geht sie stundenlang die Mauer entlang, bleibt zuweilen stehen, berührt sie vorsichtig, streichelt sie wie die Flanke eines großen Tieres.

Immer wieder will sie über die Welt hinter der Mauer reden, doch keiner hört ihr zu. Wen interessiert schon was jenseits von Sicherheit und Glück liegt?!

Ihr ist das nicht genug.

Ich spüre, daß sie unruhig ist, auf dem Sprung. Aber trotzdem hätte ich diese Frage nie erwartet, dachte die Schönheit und der Friede hier reichten aus, um sie zu halten. Jetzt ist sie da und sie gefällt mir nicht. Ich will sie nicht beantworten, will sie einfach ignorieren, aber sie steht hartnäckig zwischen uns.

Eigentlich ist die Antwort klar. Natürlich will ich nicht mit! Warum soll ich diesen Ort verlassen? Ich bin glücklich hier! Aber sie scheint es nicht zu sein. Warum nicht?

Mein Zögern macht sie wütend.

„Willst Du nicht wissen, was hinter der Mauer ist? Willst Du ewig hier so weitermachen? Immer dasselbe, tagein, tagaus? Ich versteh Dich nicht. Wie kann man nur so langweilig sein!“ Sie dreht sich um und läuft entschlossen auf das Tor zu.

Sie wird nie zurückkehren. Keiner ist jemals zurückgekommen. Wenn ich sie nicht verlieren will muß ich ihr folgen! Mein Magen krampft sich zusammen, mir wird schlecht. Sie ist schon fast beim Tor. Wenn ich mich nicht beeile, ist sie weg. Ich weiß nicht, ob ich sie draußen wiederfinden würde. Ich weiß ja nicht mal was da draußen ist. Schnell, ich muß mich sputen!

Ich renne los, hole sie ein, nehme ihre Hand. Gemeinsam verlassen wir das Paradies.